Die Welt mit anderen Augen sehen
Ich erinnere mich dunkel – ich war ein kleiner verschüchterter Schüler und gerade am Gymnasium angekommen – als mich eine Tasche eines Mitschülers mit dem berühmten Bild anblitzte:
Ein verstrubbelter alter Mann, in schwarz-weiss fotografiert, streckt wie ein kleiner Junge so wie ich einer war, dem Fotografen die Zunge raus. Unbedarft, verschmitzt und mit einem schelmischen Lächeln.
Ein wahrlich ungewöhnliches Bild für jemanden der im kleinbürgerlichen, idyllischen und Konformen aufgewachsen ist, wo man „zum Daimler zum schaffe geht“ und in dem die Vorgärten akkurat gepflegt sind.
Energie als Ergebnis von Masse und Licht
Doch das noch spannendere war, was unter diesem Bild stand: E=mc2.
Irgendetwas mit Masse, Energie und Lichtgeschwindigkeit wie ich kurz darauf im Physikunterricht lernte. Doch verstanden habe ich das Gleichheitszeichen nie wirklich. Geschweige denn die Potenz.
Yoga und die spezielle Relativitätstheorie
Diese kleine Formel (ich fragte mich bis zum Ende meiner schulischen und akademischen Laufbahn, warum ich so viele unförmige, komplizierte, unaussprechbare Formeln lernen musste, wenn diese drei Buchstaben anscheinend vieles bis fast sogar alles erklären), diese kleine Formel also veränderte die Sichtweise vieler Menschen. Und natürlich auch meine Sichtweise:
Die sogenannte „Äquivalenz von Masse und Energie“ bedeutet – vereinfacht ausgedrückt – dass jede Masse (ein Gegenstand oder Körper) m auch Energie (Licht oder Wärme) E ist – und umgekehrt.
c ist in dieser Gleichung die Lichtgeschwindigkeit. Diese beträgt rund 300.000 Kilometer pro Sekunde. Sehr viel, erst recht, wenn man es auch noch potenziert. Also jenseits unserer Vorstellungskraft.
Energie jenseits unserer Vorstellungskraft
Wer es dennoch probieren möchte: Wenn wir verstehen wollen, wieviel Energie in einem Körper oder Gegenstand innewohnt, so wird dessen Masse mit der unglaublichen Zahl von 90 Milliarden km2/s2 multipliziert.
Daraus wird deutlich, dass auch im winzigsten Teilchen unseres Universums eine unglaublich grosse Menge an Energie zu finden ist.
Dass diese Theorie unser rational geprägtes Weltbild dramatisch verändert, wurde spätestens 40 Jahre nach der Veröffentlichung Einsteins (im Rahmen seiner speziellen Relativitätstheorie von 1905) bewusst.
Winzige Atome, nicht sichtbar für das menschliche Auge, wurden gespalten und eine gigantische Menge von Energie freigesetzt, die in Sekundenbruchteilen ganze Städte zerstörte.
Nun, was hat Einstein mit mir zu tun?
Es scheint eine gewisse Gemeinsamkeit zu geben zwischen der physikalischen Welt und unserem Leben insgesamt. Und vielleicht ist es sogar möglich, die von Einstein gefunden „Äquivalenz von Masse und Energie“ auf unser menschliches Dasein zu übertragen.
Einsteins Theorie besagt, dass auch den winzigsten Materie-Teilchen eine ungeheuerliche, unvorstellbar grosse Energie innewohnt.
Im Zustand des Yoga können wir das erahnen oder sogar spüren.
Satt mit wenig
Die Christen unter uns erinnern sich vielleicht an ein schönes Sinnbild aus der Bibel das in allen vier Evangelien erzählt wird: Die Speisung der Fünftausend“ (z.B. Mk 6,32-44).
Auch hier geht es zunächst um sehr wenig Materie: Zu wenig Brot, um die grosse Menge, die Jesus gefolgt ist, satt zu kriegen.
Als Jesus seine Jünger auffordert, den Menschen zu essen zu geben, reagieren sie, wie viele von uns auch reagieren würden:
„Wir haben doch selber zu wenig! Wie könnten wir anderen auch noch etwas davon abgeben?“ Das Bild scheint in unserer aktuellen Situation in denen wir dramatische Veränderungen in Gesellschaften und Wanderungen sehen, aktueller denn je.
Es ist genügend Energie für alle da: Licht und Liebe
Doch das Bild zeigt, dass auch – und gerade – im menschlichen Miteinander so etwas zu gelten scheint wie ein „Äquivalenz von Masse und Energie“: Am Ende reicht die Energie für uns alle Menschen.
Jede kleine Initiative, jeder gute Wille, jeder kleine Hauch von Liebe und Mitgefühl, all das was wir von unserem Herzen geben, führt zu Veränderungen in unserem Leben.
Und das unserer Mitmenschen.
Yoga gibt uns Energie
Auch wenn der Bezug weit hergeholt scheint und ebenso schwer rational zu begründen ist:
Ich bin überzeugt, dass im Zustand des Samadhi, der Versenkung, man Einsteins Entdeckung spürt: Unser Geist, auch wenn subtil und feinstofflich, so doch auch Materie, entwickelt unendlich viel Energie, wenn er mit Licht, dem Universellen, der Erkenntnis, verschmilzt.
Wir spüren die göttliche, universelle Kraft.
In der Meditation Einsteins Äquivalenz spüren
Vielleicht jeder auf seine Art und Weise, der eine mehr, die andere weniger. Aber dennoch ist eine Wirkung nicht von der Hand zu weisen:
Blockaden lösen sich, Chakren öffnen sich, Sushuma transportiert Prana nach oben, der Kopf wird klar und hell. Manche sehen Farben und spüren einen Zustand der Vollkommenheit und des tief sitzenden Glücks.
Im Zustand des Yoga sind wir Energie. Unendlich grosse Energie. Gefüllt mit Liebe, Mitgefühl und Demut.
Immer wieder Neugierig sein und auf Entdeckungsreise gehen
Oder wie es Albert Einstein, ein überzeugter Pazifist, wahrer Humanist und religiöser Mensch in seinem wunderbaren Buch „Mein Weltbild“ so schön formuliert:
„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.
Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestation tiefster Vernunft und leuchtenster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.“
Meines Erachtens geht es darum im Yoga:
Durch beharrliches Üben sich selbst zu erforschen (und nicht wilde Körperhaltungen zu turnen) und somit Zugang zu einer höheren Bewusstheitsstufe zu erlangen.
Ísvarapranidhānāni – Demut und Akzeptanz der Grenzen
Und noch etwas habe ich von Albert Einstein gelernt: Es ist die Erkenntnis, dass wir Menschen vieles und am Ende doch fast gar nichts verstehen. Und dass es gilt zu lernen, dies demutsvoll anzunehmen.
Wir sind ein Geschöpf von etwas, das viel grösser ist als wir selbst. Und das gleichzeitig ein Teil in uns wohnt, so wie es der Samkhya und lehrt.
Ich bin weit davon entfernt, Einsteins Werk zu verstehen. Eher fühle ich mich wie ein kleiner Junge, der staunend vor den wilden Gedankenexperimenten seiner aufeinander fahrender Züge, langsamer gehenden Uhren, gekrümmter Zeitachsen und in Fahrstuhlschächte fallender Lichtstrahlen steht.
Das Kindliche in uns bewahren
Das wunderbare an Einstein: Dass er als einer der grössten Denker der Menschheit seine wunderbare kindliche Art beibehalten hat, die ihn menschlich, sympathisch und dadurch nahbar erscheinen lässt.
„Papa, warum bist du so berühmt?“ fragt sein neunjähriger Sohn. Seine Antwort grenzt an Genialität:
„Wenn ein blinder Käfer an einem gekrümmten Ast entlang kriecht, merkt er nicht, dass der Ast gekrümmt ist. Ich hatte das Glück zu bemerken, was der Käfer nicht bemerkt hatte.“
Mit Fähigkeiten verantwortungsvoll umgehen
Auch das lehrt mich Einstein im Yoga: Durch ihn können wir nach und nach Fähigkeiten entwickeln – oder besser freilegen, die zuvor unvorstellbar gewesen schienen.
Wir werden durch den Yoga klarer, bewusster und fördern Eigenschaften wie Mitgefühl, Gleichmut und Liebe, Sattva.
Und doch ist unsere Aufgabe und Herausforderung dabei immer in Demut vor dem Göttlichen zu sein. Und nicht abzuheben und uns erhaben zu fühlen. Das (zurück)fallen vieler weit entwickelter Yogalehrer in den tamasischen Zustand lehrt mich hier Vorsicht und ständige Reflexion.
Einsteins Ansprachen an Schulkinder oder seine Briefe an die nationalsozialitisch durchsetzte Preußische Akademie für Wissenschaft sind mir hier würdige Vorbilder.
In der Meditation das Göttliche erfahren
Als Einstein nach hartem, zehnjährigen Ringen 1915 die Spezielle in eine Allgemeine Relativitätstheorie weiterentwickelte (soweit ich es überblicke, war eine der Herausforderungen, die theoretisch angenommene gleichbleibenden Bewegung der Materie in eine der Wirklichkeit entsprechende dynamische zu berücksichtigen), erklärte er hierzu:
„Früher hat man geglaubt, wenn alle materiellen Dinge aus dem Weltall verschwinden, so blieben nur noch Raum und Zeit übrig: nach der Relativitätstheorie aber verschwinden Zeit und Raum mit den Dingen.“
Ich gebe gerne zu: Ich verstehe es nicht.
Doch es gibt Momente in der Meditation, in der genau dieser Zustand eintritt. Wir verstehen ihn nicht, aber wir spüren und erleben ihn: Die Zeit verschwindet, selbst kürzeste Augenblicke – und seien es nur Bruchteile einer Sekunde – erscheinen in tiefer Versenkung zeitlos.
Es gibt keine Grenzen mehr, kein Bezugsrahmen, kein Bewerten, kein ich. Keine „Dinge“. Sondern tiefer Frieden und Glückseligkeit. Anandamaya-Kosha, kurz bevor man zum wahren Selbst gelangt. Alles verschwindet, und doch ist alles da.
Oder wie Einstein es in seinem „Weltbild“ schreibt:
„Mir genügt das Mysterium der Ewigkeit des Lebens und das Bewusstsein und die Ahnung von dem wunderbaren Bau des Seienden sowie das ergebende Streben nach dem Begreifen eines noch so winzigen Teiles der in der Natur manifestierten Vernunft.“