Über Yoga und westliche Missverständnisse
Gibt es „Yogastile“?
Immer wieder werde ich von Schülern und Kunden gefragt, was für eine „Yoga-Stil“ ich unterrichte. Eine nachvollziehbare Frage, suchen wir Menschen doch immer nach Orientierung und möglichst klaren, einfachen Antworten. Und dennoch ist es eine schwierige Frage, die mich vor die Herausforderung stellt:
Antworte ich meiner Überzeugung nach, muss ich ausholen: Patanjali, Krishnamacharya, individuelle Anpassung, Viniyoga. Das ist ausschweifend und langweilt schnell. Sage ich irgendetwas um die Ungeduld des Gegenübers nicht zu strapazieren, bin ich nicht authentisch und glaubwürdig. Und Missachte den Geist des Yoga.
TKV Desikachar über seinen Vater, Yogastile und Demut
In einem sehr lesenswerten Interview erläutert TKV Desikachar, Sohn T. Krishnamachariyas, was sein Lehrer und Vater unter Yoga versteht. Und äussert sich zugleich über grosse Missverständnisse und Fehlinterpretationen im Westen. Bemerkenswerte Auszüge:
Bescheidenheit und Respekt gegenüber Patanjali
„Meiner persönlichen Überzeugung nach hat kein anderer Yogalehrer so viel und tief Yoga verstanden wie mein Vater; dennoch hat er nie behauptet, er habe irgend etwas erfunden. Das lag an seiner großen Bescheidenheit und seinem Respekt gegenüber der Quelle Patañjali.“
Würdigung grosser Yogalehrer – keine Vermarktung!
„Heutzutage hat jeder ein Copyright, seine eigene Yogamarke, Yoga wird vermarktet. Ich finde das unfair gegenüber unseren großen Lehrern, vor denen wir uns verneigen sollten, und deren großartige Beiträge zum Yoga wir würdigen sollten.“
Yoga ist lebenslanges lernen – und kein Wochenendworkshop
„Vielerorts wird Yoga heute so unterrichtet, dass man einen „Stil“ an dem und dem Wochenende lernen kann und dann lernt man den nächsten am kommenden Wochenende. Mein Unterricht bei meinen Vater dauerte 29 Jahre. Ich weiß, dass es nicht so geht: eine Stunde hier und eine Stunde dort! Und wenn die Leute sagen: „Oh das ist der neue Stil und das der alte“, dann kann ich das nicht kommentieren.“
Lehren ist Beziehung und Orientierung – nicht Technologietransfer
„Einer der größten Beiträge meines Vaters war, zu lehren, wie man Menschen in Schwierigkeiten mit Yoga helfen kann. Bei dieser Arbeit geht nicht um Technologie-Transfer. Es geht um Kommunikation, Beziehung und Kompetenz. Einen Lehrer braucht man nicht, um Informationen zu erhalten, sondern dafür, eine Orientierung zu bekommen. Das ist es, was wir immer wieder deutlich machen müssen.“
Funktion des Yoga steht im Mittelpunkt – nicht die Form
„Heute werden die Unterschiede aber leider daran fest gemacht, ob du verschiedene Techniken anwendest. Wenn du den Yogaraum aufheizt, ist das der „heiße Yoga“ , wen du ihn kühl hältst, nennen sie es vielleicht „kalten Yoga“. Es sind die Techniken, denen heutzutage die größte Aufmerksamkeit zuteil wird und leider nicht die Person, für deren Unterricht man sie benutzt. Man zollt der Form heute große Aufmerksamkeit, während die alten Lehrer die Funktion in den Mittelpunkt stellten.“
Viniyoga bedeutet individuelle Anpassung
„Das selbe Mantra oder die gleiche Technik kann für verschiedene Zwecke benutzt werden. Es sind diese unterschiedlichen Anrwendungen, die man mit dem Wort viniyoga bezeichnet. Viniyoga ist ein Adjektiv, ein Beiwort. Wenn wir im Yoga ein Individuum so unterrichten, wie es zu ihm passt, den Zeitrahmen berücksichtigend, den es hat, den kulturellen Hintergrund, von dem es stammt, was es braucht, dann ist das viniyoga. Wir brauchen das Wort auch nicht ununterbrochen in den Mund nehmen – wir tun es einfach, wir wenden Yoga so an.“
Das ganze Interview mit Desikachar über seinen Vater, Viniyoga und individuelle Anpassung
Das Gespräch mit ihm, Kausthub Desikachar, Martin Soder und Imogen Dalman fand im Februar 2003 in Chennai für die Viveka-Hefte statt und habe ich hier gefunden.
Viveka: Seit wir zu Ihnen nach Indien kommen, haben wir das Wort „viniyoga“ von Ihnen nur in der Bedeutung von „praktische Anwendung von Yoga“ gehört. In westlichen Yogakreisen wird es häufig benutzt, um die Art und Weise zu beschreiben, wie Sie unterrichten. Gebrauchen Sie es auch so?
T.K.V. Desikachar: Was den Gebrauch des Wortes Viniyoga im Westen betrifft, sieht die Sache so aus: Als ich in den sechziger Jahren begann, dort zu unterrichten, bemerkte ich, dass alle, die Yoga übten, die gleiche Asanapraxis machten, das gleiche Prânâyâma und die identische Meditation. Weder was sie übten noch was sie unterrichteten, berücksichtigte die Unterschiede in Kultur, Alter und Bedürfnissen der einzelnen Übenden.
Meine eigene Erfahrung war eine völlig andere. Meinen Vater hatte ich immer so unterrichten sehen, dass er, egal was gelehrt wurde – Âsanas, den Gebrauch von Mantras, Prâ~âyâma, Meditation, Vorschläge zur Ernährung – den kulturellen Hintergrund, das Alter der entsprechenden Person, ihren Gesundheitszustand und ihre besonderen Bedürfnisse berücksichtigte. Mehr noch, er veränderte die Übungsabfolgen jedes Mal, wenn er ein Veränderung in der Situation der Person bemerkte. Und genau dies hatte er mich immer gelehrt.
Als ich damals in den Westen kam, befand ich mich also plötzlich in einer seltsamen Lage: Ich hatte nur meinen Vater als Lehrer gehabt und war sehr überrascht zu sehen, dass nicht alle YogalehrerInnen so unterrichteten wie er. Als ich zum ersten Mal in Zinal, auf dem großen europäischen Yogakongress war, konnte ich beobachten, dass jeder Yogalehrer, jede –lehrerin dort das Gleiche lehrte wie die anderen, in großen Gruppen zudem. Was sie lehrten hatte nichts, aber auch gar nichts mit den Individuen zu tun, die sie unterrichteten. Sie griffen auf die immer gleichen Techniken zurück und vor allem, für alle Yogaübenden auf die selben.
Ich selbst unterrichtete dort auf dem Kongress so, wie es mein Vater tat. Und um zu verdeutlichen, warum dies so aussah, benutzte ich das Sûtra aus Patañjalis drittem Kapitel „tasya bhumisu viniyogah“ (Anmerkung Stefan Geisse: YS 3.6). Dieses Sûtra sagt, dass Yogapraxis, einschließlich Meditation, so unterrichtet werden muss, dass sie dem Niveau des Individuums entspricht. Bhumi bedeutet Ebene, Niveau. Es liegt auf der Hand, was das meint: Jemanden, der in seinem Verständnis von Yoga etwa sehr weit ist, sollte man nicht irgend etwas ganz Simples lehren. Auf der anderen Seite sollte man einen Anfängerin, einen Anfänger nicht mit komplizierten Dingen überfordern.
Dieses Konzept von viniyoga gibt es nicht nur im Yoga Sûtra. In allen Ritualen Indiens wird es benutzt. Es beschreibt dort den Zweck und die Art und Weise, wie man etwas lehrt, seien es Mantras, sei es Meditation. Das Wort wird benutzt, wenn man etwa sagen möchte: „Ich benutze dieses Mantra zum Zwecke der Gesundung eines Menschen“ („ârogye viniyoga“). Oder: „Ich benutze es, um Blockierungen zu beseitigen, um zu reinigen“ (Íuddhe viniyoga“).
Das bedeutet also: Das selbe Mantra oder die gleiche Technik kann für verschiedene Zwecke benutzt werden. Es sind diese unterschiedlichen Anrwendungen, die man mit dem Wort viniyoga bezeichnet.
Viniyoga ist ein Adjektiv, ein Beiwort. Wenn wir im Yoga ein Individuum so unterrichten, wie es zu ihm passt, den Zeitrahmen berücksichtigend, den es hat, den kulturellen Hintergrund, von dem es stammt, was es braucht, dann ist das viniyoga. Wir brauchen das Wort auch nicht ununterbrochen in den Mund nehmen – wir tun es einfach, wir wenden Yoga so an.
Als ich damals aber in den Westen kam, war von einer solchen Art, Yoga zu benutzen, weit und breit nichts zu sehen. Aus diesem Grund habe ich den Begriff damals so betont. Warum sollte ich ihn heute benutzen, um meine Arbeit zu kennzeichnen? Viniyoga ist nicht ein besonderer Yoga, sondern bezeichnet die Anwendung von Yoga, so wie ich es skizziert habe. „Angewandter Yoga“ kann man es nennen, so wie es angewandte Physik gibt oder angewandte Biologie, angewandte Chemie, angewandte Psychologie, angewandte Mechanik. Das ist alles. Wir müssen dieses Wort nicht ständig im Mund führen. Wir wenden Yoga an und das ist für uns normal.
Viveka: Manche Leute sagen, dieses Wort sei bei Patañjali nur auf die Meditation bezogen, weil es im dritten Kapitel erscheint, am Ende der Beschreibung von Meditation. Die anderen Beispiele, die sie gaben, stammten aus der indischen Kultur, die ja verschieden ist vom Yoga. Was würden Sie denen antworten?
T.K.V. Desikachar: Patañjali betont die Notwendigkeit der passenden Anwendung von Yoga an verschiedenen Stellen des Yoga Sûtra. So auch – ebenfalls im Zusammenhang mit Meditation – im ersten Kapitel, wo es an einer Stelle heißt: Ein Meditationsgegenstand sollte dem Interesse der Person entsprechend gewählt werden („Yathâbhimatâ dhyânadva“).
Wenn Patañjali dieses Wort im Rahmen der Diskussion von Meditation benutzt hat, für eine Situation also, in welcher der Geist eines Menschen relativ ausgeglichen und er selbst schon ein wenig gewachsen ist; wenn er es also benutzt für jemanden mit einem stabilen Geist, der die Fähigkeit hat, denselben auszurichten und zu fokussieren; wenn solch ein Mensch die richtige, die passenden Anwendung von Yoga berücksichtigen muss – um wie viel mehr gilt es dann für Menschen, die noch unklarer sind und unruhiger im Geist! Wenn etwas für ein hohes Niveau Gültigkeit besitzt, dann ist es offenkundig auch gültig für ein niedrigeres. So jedenfalls lautet die Lehre der alten Lehrer.
Das Prinzip der passenden Anwendung gilt natürlich auch für andere Situationen des Yoga, außerhalb der Meditation. Zum Beispiel dort, wo Patañjali das Thema der Yama behandelt, also das Verhalten eines Menschen seiner Umwelt, seinen Mitmenschen gegenüber. An dieser Stelle des Yoga Sûtra sagt er: Die Frage danach, was etwa Gewaltlosigkeit, Aufrichtigkeit und viele andere Werte im Umgang miteinander muss die Umstände dessen berücksichtigen, der handelt: Ist er ein junger Mensch, der lernt? Ist er ein Familienvorstand? Aus welchem Land stammt er, in welcher Zeit lebt er, was hat ihn sozial und kulturell geprägt? All diese Dinge spielen eine Rolle, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält. Patañjali benutzt an dieser Stelle des Yoga Sûtra nicht das Wort viniyoga. Aber das, was er sagt, meint das Gleiche: Im Yoga müssen wir solche Umstände berücksichtigen.
Viveka: So wie Sie es eben erklärt haben, ist viniyoga also kein Label für einen besonderen Stil von Yoga sondern einfach die Anwendung von Yoga. Wenn wir im Westen uns Yogaunterricht anschauen, können wir deutliche Unterschiede dahingehend beobachten, wie Yoga angewandt wird. Sie drücken sich darin aus, wie etwa Âsanas benutzt werden oder Prâ~âyâma-Techniken. Was sind die Konsequenzen Ihrer Aussagen auf einem praktischen Level? Jemand kommt in einen Kurs, wo Âsanas auf eine Weise benutzt werden, bei jemand anderem werden sie so oder so benutzt. Und nun?
T.K.V. Desikachar: Schauen Sie sich fünf verschiedene Ärzte an – jeder gibt die gleiche Medizin auf verschiedene Art und Weise. Wie der einzelne es tut, hängt von seinem persönlichen Verständnis und seiner Erfahrung ab.
Viveka: Greifen wir Ihr Beispiel der Ärzte auf. Als Arzt habe ich ein Türschild, auf dem steht: „Spezialist für Dieses oder Jenes“. Gegenüber der Patientenöffentlichkeit identifiziert sich ein Arzt, eine Ärztin über eine Beschreibung dessen, was sie tut. So weiß jemand mit einem Herzanfall, dass er nicht zu einem Orthopäden gehen sollte oder zu einem Urologen… Wenn wir das mal mit einem Yogalehrer analogisieren – wie wäre das?
Kausthub: Das Wort Orthopäde oder das Wort Kardiologe ist keine Marke, kein Label. Wie Sie erwähnten, sagt es nur etwas darüber aus, dass der betreffende Arzt in einem bestimmten Bereich der Experte ist. So etwas hat es natürlich auch immer im Yoga gegeben. Es gibt YogalehrerInnen, die bestimmte Spezialisierungen haben. Diese basieren aber nicht auf einem Label, einem Etikett, sondern auf bestimmten Funktionen, wie etwa dem therapeutischen Unterricht (cikitsa), oder auf dem Anwenden von Yoga für Leute, die einen spirituellen Weg suchen. Manche sind besonders gut in Bereichen, in denen es darum geht, Gesundheit zu erhalten, oder darin, Kinder zu unterrichten, (ÍikÍana). All dies sind verschieden Arten, Yoga zu unterrichten. Sie basieren auf Funktionen. Schon die alten Lehrer haben das, was sie unterrichteten, durchaus klassifiziert. Die Klassifizierung basierte aber auf der Funktion ihrer Arbeit und nicht auf Unterschiedlichkeit von Techniken.
T.K.V. Desikachar: Im Krishnamacharya Yoga Mandiram hier in Chennai haben wir zum Beispiel verschieden Abteilungen. Eine etwa, in der wir aus- und weiterbilden. In einer anderen machen wir therapeutische Arbeit und nennen das cikitsa, das Sanskrit-Wort für Therapie. Wir bieten Yoga auch behinderten Menschen an – auch dafür haben wir ein Abteilung. Je nachdem, weshalb jemand kommt, wird er natürlich hier oder dort hin gehen.
Kausthub: Heute werden die Unterschiede aber leider daran fest gemacht, ob du verschiedene Techniken anwendest. Wenn du den Yogaraum aufheizt, ist das der „heiße Yoga“ , wen du ihn kühl hältst, nennen sie es vielleicht „kalten Yoga“. Es sind die Techniken, denen heutzutage die größte Aufmerksamkeit zuteil wird und leider nicht die Person, für deren Unterricht man sie benutzt. Man zollt der Form heute große Aufmerksamkeit, während die alten Lehrer die Funktion in den Mittelpunkt stellten.
Um noch einmal auf die Ärzte zurück zu kommen: Sich als Kardiologe anzukündigen bedeutet, sich in seiner Funktion anzukündigen. Über einen Neurologen wird man sagen, dass er Spezialist ist für das Gehirn und seine Funktion – nicht Spezialist für eine bestimmte Technik.
Warum das im Yoga heutzutage so anders ist – vielleicht, weil man es nicht besser weiß, oder vielleicht weil man sich nicht Besonderes zutraut. So wird das Yogaunterrichten wie das Fritten-Verkaufen: Mc. Donalds macht die Pommes auf eine Weise, Burger King produziert die gleichen Kartoffeln mit einer anderen Technik. Und beide sagen: „So gut wie meine Technik ist keine“.
So etwas steht im Widerspruch zu dem, was die Yogatradition uns lehrt. In deren Geist aber verstehen und unterrichten wir Yoga.
Viveka: Sie erwähnen den Unterschied zwischen Form und Funktion. Wenn wir nun etwa beobachten, dass in einem Gruppenunterricht, wo zwanzig Personen gleichzeitig Yoga üben, kein Kopfstand unterrichtet wird – hat das mit der Idee zu tun, dass die Funktion vor der Form kommt?
Kausthub: Nein, das hat mit etwas anderem zu tun. Wir haben zum Beispiel gerade eine internationale Gruppe von Yoga-Interessierten hier in Chennai. Für sie breiten wir den Schatz dessen aus, was mein Vater lehrte und unterrichten in diesem Rahmen Yogagrundlagen: Wie es aussieht, wenn man ein individuelles Programm für eine konkrete Person zusammenstellt, etwa. Oder Konzepte aus dem Yoga Sûtra oder Grundlagen des Prâ~âyâma.
Wenn wir in diesem Zusammenhang Âsanas unterrichten, haben diese die Rolle, die Gruppen-TeilnehmerInnen für den langen Unterrichtstag fit zu halten. Alle Âsanas, die dafür taugen, benutzen wir.
Wäre der Fokus eines Gruppenunterrichts, die Teilnehmer auf perfekte Weise Âsanas üben zu lassen, müssten wir in einer anderen Richtung arbeiten. Das kann man dann natürlich nicht mit allen Teilnehmern machen. Wer gesundheitliche Probleme hat, sollte in einer Gruppe bestimmte Âsanas nicht üben, die für die anderen TeilnehmerInnen sehr sinnvoll sein können. Die Frage ist immer die nach der Funktion dessen, was ich tue. Nicht weil ich dieses oder jenes unterrichten kann, müssen alle Leute, die zu mir kommen, das lernen. Das wäre nicht in Ordnung. Der Fokus muss klar sein.
T.K.V. Desikachar: Für eine breite Öffentlichkeit erscheint es fast so, als wäre Yoga identisch mit Âsanas. Wir versuchen deshalb immer wieder, das ganze breite Spektrum der Lehre Patañjalis anzubieten. Etwa, wenn wir auf einer großen Konferenz Yoga unterrichten, Ich denke, in diesem Rahmen ist es unsere Aufgabe, Patañjalis Yogalehre klar und deutlich darzustellen. Deshalb versuchen wir, die Lehre des Yoga in ihrer Ganzheitlichkeit zu präsentieren.
Sie sehen: Ich benutze den Begriff „Patañjalis Yoga“, nicht etwa „viniyoga“. Und auch nicht „Krishnamacharyas Yoga“. Mein Vater hat niemals gesagt, er hätte einen bestimmten Yoga erfunden. Meiner persönlichen Überzeugung nach hat kein anderer Yogalehrer so viel und tief Yoga verstanden wie mein Vater; dennoch hat er nie behauptet, er habe irgend etwas erfunden. Das lag an seiner großen Bescheidenheit und seinem Respekt gegenüber der Quelle Patañjali.
Heutzutage hat jeder ein Copyright, seine eigene Yogamarke, Yoga wird vermarktet. Ich finde das unfair gegenüber unseren großen Lehrern, vor denen wir uns verneigen sollten, und deren großartige Beiträge zum Yoga wir würdigen sollten.
Viveka: Wir wissen nicht, wie es in den USA aussieht, wo Sie oft sind – wir können nur über Deutschland sprechen. Was uns hier auffällt ist, dass viniyoga häufig mit einfachen Übungen identifiziert wird, mit dynamischem Üben, mit der Berücksichtigung des Atems beim Üben der Âsanas, mit dem Gebrauch von Hockern oder Stühlen… . Das kam aus einem Missverständnis heraus zustande. Es trat auf, als Ihre Art und Weises zu unterrichten in Kontakt kam mit der, wie Yoga zuvor hier gelehrt worden war. Damals dachten viele Leute, sie würden „klassischen Yoga„ üben. „Klassische Âsanas“ wurden mit der berühmten Rishikesh-Reihe und Ähnlichem identifiziert. „Klassisch“ war aber eigentlich nur gleich bedeutend damit, dass erstens nur eine sehr kleine Anzahl aller vorhandenen Âsanas gekannt und geübt wurde und diese zweitens ausschließlich statisch. Die von Ihnen inspirierte Art des Unterrichts konfrontierte die YogalehrerInnen mit drei neuen Dingen: „Neuen“ Âsanas – eigentlich Variationen, die für sie nur „neu“ waren – , mit der Idee des dynamischen Übens und dann dem Thema des Anpassens von Übungen jeder Art. Das war so erstaunlich, dass es als ein neuer Weg angesehen wurde, Yoga zu machen.
Heute sagen Leute, welche die Begriffe „klassisch“ vermeiden wollen, manchmal: „Ich lehre und übe Yoga es auf die alte Weise„ und andere „ich mache es auf die neue Art und Weise“. Letzteres beinhaltet dann immer, dass ich Übungen anpasse, mehr Âsanas benutze und nicht die Form der Funktion vorziehe. Wenn sich jemand in diesem Zusammenhang erklären möchte, sagt er dann: „Ich bin inspiriert von viniyoga“, oder ich unterrichte im Viniyoga-Stil“. Was meinen Sie dazu?
T.K.V. Desikachar: Was kann ich da machen? Ich habe im Westen viele Dinge unterrichtet: Francois Lorin aus Frankreich habe ich 1966 den vollen Drehsitz (pûrna Matsyendrâsana) gelehrt; als Dr. Craig aus USA 1969 zu mir kam, übte er mit mir einige der allerschwierigsten Positionen – er war 22 Jahre als und topfit. Als die beiden später kamen, habe ich sie etwas anderes gelehrt – sie waren eben nicht mehr 22 Jahre alt.
Was kann ich tun, wenn Leute nur einen Teil aus dem herausnehmen, was ich lehre und es für das Ganze halten? Manchmal denke ich in diesem Zusammenhang an das Gleichnis der vier blinden Männer, die versuchen, einen Elefanten zu beschreiben – jeder „sieht“ ihn anders, je nachdem, welchen Teil er mit den Händen zu fassen bekommt.
Wenn wir Menschen etwas Sinnvolles anbieten wollen, müssen wir uns aller Werkzeuge bewusst sein, über die wir verfügen. Im Medizinstudium studiert man ja auch erst mal alles. Ausbildung impliziert, dass man alles erst mal kennen lernen muss. Nicht nur die Theorie sondern auch ihre Anwendung. Wenn uns das nicht mal bewusst ist, wie können wir den Menschen etwas anbieten?
Ich habe auch erlebt, dass man sich vorstellt, die Idee des viniyoga bezöge sich allein auf Âsana – Praxis. Das ist natürlich Humbug. Noch absurder die Vorstellung: „ viniyoga ist Âsana-Praxis mit gebeugten Ellenbögen und Knien“! Und dann das berüchtigte Anbeugen der Arme: Wenn wir das die Kinder lehren wollten, die wir unterrichten, dann kämen die nicht mehr. Sie wollen herausgefordert werden, sie brauchen den Pfau, Pincha Mâyurâsana, VasiÍtâsana, Mandala und solche Dinge.
Auf der Basis solcher Missverständnisse kommen dann Ideen zustande wie „Ich mache Yoga nach Desikachar – die Âsanas. Nach Swami Satchidânanda mache ich Prânâyâma und Meditation mache ich nach Swami Hariânanda… usw.“
Vielerorts wird Yoga heute so unterrichtet, dass man einen „Stil“ an dem und dem Wochenende lernen kann und dann lernt man den nächsten am kommenden Wochenende. Mein Unterricht bei meinen Vater dauerte 29 Jahre. Ich weiß, dass es nicht so geht: eine Stunde hier und eine Stunde dort! Und wenn die Leute sagen: „Oh das ist der neue Stil und das der alte“, dann kann ich das nicht kommentieren.
Viveka: Es gibt in Deutschland sehr viele YogalehrerInnen, die so arbeiten, dass sie das Anpassen von Yogaübungen ins Zentrum ihrer Arbeit stellen. Wie können diese einer interessierten Öffentlichkeit deutlich machen, dass sie so arbeiten?
T.K.V. Desikachar: Wir haben das so gemacht: Vor etwas über 15 Jahren haben wir gemerkt, dass einige Ärzte hier in Chennai sich dem Yoga gegenüber öffneten. Diesen stellten wir in eintägigen Veranstaltungen vor, nach welchen Prinzipien wir arbeiten. Wie wir Yoga für Menschen mit Rückenschmerzen anwenden, wie wir mit depressiven Menschen, wie mit geistig behinderten Personen arbeiten usw. Wir machten das damals in einem Krankenhaus, und hatten einen der wichtigen Ärzte dafür gewonnen, uns vorzustellen. 150 Ärzte nahmen Teil. Bei einigen zerstreute die Präsentation die Zweifel und Skepsis und sie begannen, uns zu vertrauen und uns Patienten zu schicken. Wir unsererseits suchten ihre Kooperation und auch ihre kritischen Vorschläge. Das hat damals enorm viel verändert und wir versuchen, so etwas immer wieder zu tun. Ich habe das in New York getan, in San Francisco. Ich denke also schon, dass wir unsere Arbeit präsentieren müssen.
New York und San Francisco habe ich in den USA gewählt, weil ich dort jeweils jemanden kenne, den ich für kompetent halte, Yogaunterricht für solche Menschen zu geben, wie ich sie oben genannt habe. Ich vertraue diesem Yogalehrer und dieser -Lehrerin, ich weiß um deren Kompetenz. Ich finde es nicht seriös, einfach irgendwo etwas zu präsentieren und sich dann davon machen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass der nächsten Schritt angeboten wird. Die Columbia Universität in New York zum Beispiel möchte ein gemeinsames Projekt über begleitende Therapien mit uns anfangen. Das, was sie von uns gesehen haben, hat sie überzeugt davon, dass wir risikoarm arbeiten können, dass jedes Individuum respektiert wird und dass der Beziehung zwischen LehrerIn und SchülerIn Bedeutung zugemessen wird. Die Wissenschaftler dort haben Vertrauen gefasst.
In der alten Lehrmethode gab es immer die Idee, dass man sich der Prüfung durch eine kompetente Persönlichkeit stellen müsse. Sie fordert dich heraus und wenn du sie zufrieden stellst, wird das, was du lehrst, akzeptiert.
Viveka: Wie können wir klar machen, welches die Referenzen für einen guten Lehrer, einen gute Lehrerin sind?
T.K.V. Desikachar: Wir können nur Leute empfehlen, die wir kennen, von denen wir wissen, dass sie kompetent und zuverlässig sind. Man kann nur jemanden empfehlen, den man persönlich kennt, von dem man weiß, dass er auch kann, was geleistet werden muss. Das erfordert einen hohen Grad an Qualifikation. Unsere Mandiram-Lehrer etwa durchlaufen zweieinhalb Jahre intensiver Ausbildung und sie müssen ihr Wissen unter Beweis stellen. Die beiden letzte Semester unterrichten sie Individuen unter der Supervision ihrer Mentoren, langjähriger Mandiram-Lehrer. Erst danach können sie versuchen ihr Zertifikat zu machen. Und nicht alle bekommen es automatisch.
Einer der größten Beiträge meines Vaters war, zu lehren, wie man Menschen in Schwierigkeiten mit Yoga helfen kann. Bei dieser Arbeit geht nicht um Technologie-Transfer. Es geht um Kommunikation, Beziehung und Kompetenz. Einen Lehrer braucht man nicht, um Informationen zu erhalten, sondern dafür, eine Orientierung zu bekommen. Das ist es, was wir immer wieder deutlich machen müssen.